Überspannungsschutz : Schutz vor Störlichtbögen in Niederspannungsanlagen

Störlichtbögen in Niederspannungsanlagen können eine Gefahr für Mitarbeitende darstellen.

Störlichtbögen in Niederspannungsanlagen können eine Gefahr für Mitarbeitende darstellen.

- © eSafety Training

Die Normenreihe OVE HD IEC 60364-4-42 bzw. OVE E 8101 beschäftigt sich mit Planung, Errichtung und Prüfung von Niederspannungsanlagen bis 1000 V AC. Sie ist für Fachplaner*innen, Errichter*innen und Anlagenbauer*innen relevant, um den sicheren und gefahrlosen Betrieb der Niederspannungsanlagen zu gewährleisten. Innerhalb dieser Normenreihe beschreibt die Gruppe 400 die zu treffenden Schutzmaßnahmen. Der Teil 420 wiederum konkretisiert Maßnahmen zum Schutz:

  • von Personen, Nutztieren und Sachen gegen thermische Einflüsse,
  • vor der Verbreitung von Flammen und Rauch sowie
  • der Beeinträchtigung der sicheren Funktion elektrischer Einrichtungen.

Der im Dezember 2022 veröffentlichte Entwurf OVE HD IEC 60364-4-42:2022-12-15 legt Kriterien fest, in welchen Anwendungsfällen Maßnahmen zum Schutz vor den Gefahren von Störlichtbögen in Niederspannungsanlagen zu ergreifen sind. Der Grundsatz: Elektrische Anlagen sind so zu gestalten und zu errichten, dass Personen, nach vernünftigem Ermessen und so weit wie möglich, vor den Auswirkungen eines internen Störlichtbogens geschützt sind.

Mit dem aktuellen Entwurf aus 2022 kam unter anderem der Abschnitt 427 hinzu, der diese Schutzmaßnahmen behandelt. Dieser Anwendungsleitfaden bezieht sich auf die Entwurfsveröffentlichung. Änderungen im finalen Dokument können eine Überarbeitung notwendig machen.

>> Zu beachten ist auch diese Verpflichtung gemäß Elektroschutzverordnung (ESV 2012 §2):

„Zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer/innen vor Gefahren, die vom elektrischen Strom ausgehen, haben Arbeitgeber/innen dafür zu sorgen, dass elektrische Anlagen und elektrische Betriebsmittel nach den anerkannten Regeln der Technik betrieben werden, sich stets in sicherem Zustand befinden und Mängel unverzüglich behoben werden."

Schutzziele

Abschnitt 427 differenziert zwischen Personen- und Anlagenschutz. Darüber hinaus spezifiziert er Anforderungen an den Einsatz von aktiven Störlichtbogen-Schutzsystemen.

Schematische Darstellung eines Störlichtbogen-Schutzsystems

- © Dehn

Teil 1: Personenschutz vor Störlichtbögen

Grundsätzlich sollten Personen, so weit wie möglich, vor den Auswirkungen eines Störlichtbogens geschützt werden. Diese Forderung bezieht sich auf den normalen Betrieb der Schaltanlage, also den geschlossenen Zustand. Darüber hinaus ist der Betreiber gemäß ArbeitnehmerInnenschutzgesetz bzw. Elektroschutzverordnung dazu verpflichtet, für sämtliche Tätigkeiten (auch Wartungs- und Servicetätigkeiten) eine Gefährdungsbeurteilung (z.B. nach OVE R16) durchzuführen. Daraus abgeleitet sind geeignete Maßnahmen zum Schutz der Mitarbeitenden zu ergreifen.

Der Energiegehalt eines Störlichtbogens hängt von mehreren netzseitigen Faktoren und den jeweiligen Impedanzverhältnissen am Entstehungsort ab. Daher sollten Grenzwerte definiert werden, ab denen weitergehende Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind.

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So wurden für die Niederspannungsanlage ein Bemessungsbetriebsstrom ≥ 800 A und ein unbeeinflusster (prospektiver) Kurzschlussstrom ≥ 25 kA als Grenzwerte festgelegt. Der Grenzwert für den Kurzschlussstrom ist auf einen 630 kVA-Transformator (uk 4 %) im 400 V Netz zurückzuführen, der im Kurzschlussfall einen Fehlerstrom von annähernd 25 kA bereitstellt. Für den Grenzwert des Bemessungsstromes von 800 A wurde der Mittelwert zwischen dem Bemessungsstrom eines 630 kVA-Transformators im 400 V Netz (ca. 900 A) und dem Übergang von den schnell schaltenden Kompaktleistungsschaltern zu den langsam schaltenden offenen Leistungsschaltern (≥ 630 A) herangezogen.

>> Werden diese Grenzwerte erreicht bzw. überschritten, ist gemäß Abschnitt 427 mindestens eine der folgenden vier Maßnahmen zu realisieren:
    Der Energiegehalt eines Störlichtbogens hängt von netzseitigen Faktoren und den Impedanzverhältnissen am Entstehungsort ab.

    Vier Maßnahmen für Personenschutz vor Störlichtbögen

    1. Aufstellung der Niederspannungsanlage in einem Raum mit Zutrittsbeschränkung – Zugang nur für Elektrofachkräfte

    2.
    Einsatz von Schaltanlagen, die gemäß IEC TR 61641 (OVE EN 61439-2) konstruiert und geprüft wurden

    3.
    In der Einspeisung sind kurzschlussstrombegrenzende Schutzgeräte zu verwenden.

    4.
    Reduzierung der SLB-Energie durch den Einsatz eines Störlichtbogenschutzsystems (gemäß Anforderungen der IEC TS 63107) oder von unverzögerten Überstromschutzgeräten in der Einspeisung der Schaltanlage (diese Schutzmaßnahme kann temporär oder permanent wirken).

    Wirksamkeit der Maßnahmen für Personenschutz

    1. Generell ist es sinnvoll, Niederspannungsanlagen mit hoher Energiedichte nur Elektrofachkräften zugänglich zu machen, in elektrotechnischen Räumen mit Zutrittsbeschränkung. Dieser Forderung lässt sich aber nicht immer uneingeschränkt nachkommen.

      ⇨ So befinden sich in Industriebetrieben Niederspannungsanlagen mit Kurzschlussströmen von bis zu 100 kA in Bereichen, in denen sich auch elektrotechnische Laien aufhalten. Bei diesem Lösungsansatz ist die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Fehlers im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung – insbesondere angesichts der zu erwartenden Tätigkeiten – besonders zu bewerten.

    2. Die Überprüfung einer Niederspannungsanlage gemäß IEC TR 61641 (OVE EN 61439-2) auf Störlichtbogenfestigkeit zielt lediglich darauf ab, die thermischen Auswirkungen und die Druckbeanspruchung durch einen internen Störlichtbogen zu bewerten.

      Diese Prüfung wird im geschlossenen Zustand der Niederspannungsanlage durchgeführt und klammert Wartungs- und Servicebedingungen explizit aus. Darüber hinaus werden nicht alle für den Menschen gefährlichen Auswirkungen, wie z.B. der Auswurf giftiger Gase, in der Beurteilung der Prüfung gewürdigt. Inwieweit diese Maßnahme einem umfassenden Personenschutz gerecht wird, ist bei der Gefährdungsbeurteilung zu bewerten.

    3. Für Hauptverteilungen, in denen die Verfügbarkeit eine wichtige Rolle spielt, wird in der Regel ein zeitselektiver Anlagenschutz realisiert. Bei Überlast oder Kurzschluss soll nur das nächstgelegene Schaltgerät abschalten, um den Betrieb des verbleibenden, intakten Teils der Schaltanlage zu gewährleisten. Ein solches Schutzkonzept hat zur Folge, dass die Verzögerungen der Auslösezeiten aller Einspeise- und Kuppelschalter auf mehrere hundert Millisekunden eingestellt werden. Kurzschlussstrombegrenzende Sicherungen und Kompaktleistungsschalter, die deutlich kürzere Abschaltzeiten bieten, sind in der Regel in diesen Hauptverteilungen nicht verbaut.

      Die Anforderungen von Personen- und Anlagenschutz (Verfügbarkeit) sind bei diesem Schutzkonzept im Sinne des Störlichtbogenschutzes gegenläufig und müssen mittels Gefährdungsbeurteilung bewertet werden. Bei der Kalkulation der zu erwartenden Störlichtbogenenergie sollten die verzögerten Abschaltzeiten und darüber hinaus auch die Reduzierung des Fehlerstromes durch die Dämpfung des Störlichtbogens berücksichtigt werden. Berechnungen orientieren sich an DGUV-I 203-077 oder an IEEE 1584.

    4. Mit einem Störlichtbogen-Schutzsystem, das mit sogenannten Löschgeräten ausgestattet ist, kann die Störlichtbogenenergie signifikant reduziert werden. Der Störlichtbogen wird innerhalb von wenigen Millisekunden in einen satten Kurzschluss überführt.

      ⇨ Die Kombination aus Niederspannungsanlage mit Bauartnachweis und aktivem Störlichtbogenschutzsystem sollte den Anforderungen der IEC TS 63107 entsprechen, mit den Bemessungswerten der Schaltanlage geprüft sein und die freigesetzte Störlichtbogenenergie Earc ausweisen.

    Zu beachten

    ⇨ Nur wenn es die energetische Betrachtung erlaubt, können auch offene Leistungsschalter, unter Umgehung der Auslösekennlinie mittels unverzögerter Auslösung, eine Verbesserung des Personenschutzes bieten. Die reduzierte Störlichtbogenbrenndauer liegt dann bei rund 50 ms anstelle der im zeitselektiven Anlagenschutz üblichen 200 bis 300 ms des Einspeiseschalters.

    Zur Auswahl des Schutzkonzeptes kann eine energetische Betrachtung gemäß DGUV-I 203-077 oder IEEE 1584 durchgeführt werden. Diese ist in Anlehnung an die ESV 2012 dringend zu empfehlen. Sollte auf der Niederspannungsebene einspeiseseitig kein Leistungsschalter verbaut sein, muss in einem solchen Schutzkonzept der Mittelspannungsschalter zur Auslösung gebracht werden.

    Teil 2: Anlagenschutz vor Störlichtbögen

    Angaben zum Anlagenschutz finden sich in Abschnitt 427.2 des Entwurfs. Auch die Schaltanlage selbst soll vor den Auswirkungen eines Störlichtbogens geschützt werden, um die Versorgung der Prozesse nicht zu gefährden, aus deren Ausfall sich schwerwiegende Konsequenzen ergeben können. Eine solche Unterbrechung könnte

    • biologische, chemische oder radioaktive Emissionen auslösen (zum Beispiel in der chemischen oder petrochemischen Industrie) bzw. toxische Emissionen des Störlichtbogens selbst freisetzen,
    • Menschenleben gefährden (zum Beispiel Sicherheitseinrichtungen, medizinische Ausrüstung in Krankenhäusern),
    • öffentliche Einrichtungen stilllegen (Ämter, Rechenzentren, Museen …),
    • ausgedehnte Anlagenstillstände und wirtschaftliche Schäden verursachen (etwa in Industriebetrieben, Hotels, Banken, Handelsmärkten oder Nutztierbetrieben).

    ⇨ Die Anforderungen an den internen Störlichtbogenschutz richten sich nach den Ergebnissen einer Risikobeurteilung. Sollte die Risikobeurteilung Anforderungen für Schutzmaßnahmen gegen Störlichtbögen ergeben, sind für die betrachteten Versorgungsunterbrechungen der ersten beiden obigen Punkten aktive Störlichtbogenschutzsysteme vorzusehen.

    Auch die Schaltanlage selbst soll vor den Auswirkungen eines Störlichtbogens geschützt werden, um unter Umständen schwerwiegende Folgen zu vermeiden.

    Wirksamkeit der Maßnahmen für Anlagenschutz

    Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass kritische Infrastruktur auf eine Art und Weise mit elektrischer Energie versorgt wird, dass ein Ausfall eines Anlagenteils nicht zu einer Unterbrechung führt, die schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht. An dieser Stelle sei beispielhaft auf die Erstfehlersicherheit in Krankenhäusern (in Bereichen der Gruppe 2, Patientenversorgung) oder auf redundante Versorgungskonzepte in Rechenzentren hingewiesen.

    Im Falle eines Störlichtbogens werden Niederspannungsanlagen und gegebenenfalls angeschlossene Verkabelungen häufig so stark beschädigt, dass ein kompletter Austausch erfolgen muss. Die Wiederbeschaffungszeit der Anlage, inklusive der Einbringung der Neuanlage, beläuft sich in der Regel auf einen längeren Zeitraum. Es gilt also, die Ausfallzeit so gering wie möglich zu gestalten.

    Mithilfe von aktiven Störlichtbogenschutzsystemen lassen sich Betriebsunterbrechungen von störlichtbogenbehafteten Anlagenteilen auf wenige Stunden reduzieren. Auf diese Art und Weise wird die gewünschte Sicherheit der elektrischen Energieversorgung realisiert.

    Schutz vor internen Störlichtbögen

    Mit dem Schutz vor internen Störlichtbögen durch den Einsatz von aktiven Störlichtbogenschutzsystemen befasst sich Abschnitt 427.3 des Entwurfs. Aktive Störlichtbogenschutzsysteme in Niederspannungsanlagen müssen demnach den Anforderungen der IEC TS 63107 genügen. In der dazugehörigen Note wird erläutert, dass die IEC TS 63107 Anforderungen definiert, um Störlichtbogenerfassungssysteme gemäß IEC 60947-9-2 und Störlichtbogenlöschgeräte gemäß IEC 60947-9-1 (OVE EN IEC 60947-9-1) in Niederspannungs-Schaltgerätekombinationen gemäß IEC 61439-2 (OVE EN 61439-2) zu integrieren.

    Wirksamkeit dieser Empfehlung

    Mit der Forderung, die Kombination aus Niederspannungsanlage und aktivem Störlichtbogenschutzsystem gemäß IEC TS 63107 nachzuweisen, ist die Vergleichbarkeit der verfügbaren Lösungsansätze erstmals gegeben. Entscheidend für die Wirksamkeit der jeweiligen Schutzmaßnahme ist die Begrenzung der vom Störlichtbogen freigesetzten Energie Earc.

    Darüber hinaus regelt die neu entstandene IEC TS 63107 auch die Verantwortlichkeiten aller involvierten Parteien. So muss der Erzeuger der Schaltanlage (Konstruktionsverantwortlicher) Vorgaben für die Positionierung der Komponenten des Störlichtbogenschutzsystems bereitstellen – vorrangig für die Sensoren zur Störlichtbogenerkennung.

    Der Verteiler-/Schaltanlagenbauer der Schaltanlage muss die vom System überwachten Bereiche eindeutig kennzeichnen und als solche auch ausweisen. Bereiche in denen, in Abhängigkeit der Schaltzustände der verwendeten Schaltgeräte, entweder ein temporärer Schutz gegeben ist oder nicht, müssen ebenfalls gekennzeichnet sein.

    Für den Betreiber bietet der Einsatz eines aktiven Störlichtbogenschutzsystems den derzeit bestmöglichen Schutz der Schaltanlage und damit verbunden auch die Verfügbarkeit der elektrischen Energieversorgung. Bedingt durch die sehr kurzen Störlichtbogenbrenndauern und die damit reduzierte Störlichtbogenenergie erreicht auch der Personenschutz ein sehr hohes Niveau. Dass mit diesem Lösungsansatz ebenfalls der Brandschutz verbessert wird, liegt auf der Hand und wird seit einigen Jahren durch VdS-zertifizierte Lösungen belegt.

    Bei der Auswahl geeigneter Systeme sollte neben dem Energieumsatz auch der Nachweis der Fehlauslösesicherheit berücksichtigt werden. Dabei gilt es, Störlichtbögen von betriebsbedingten Schaltlichtbögen eindeutig abzugrenzen und so unnötige Abschaltungen der Schaltanlage zuverlässig zu vermeiden. Solche Schaltlichtbögen werden zum Beispiel von Leistungsschaltern bei Unterbrechung von Überströmen emittiert.

    Störlichtbogenschutz in Niederspannungsanlagen etabliert sich auf breiter Front in allen relevanten Vorschriften.

    Zusammenfassung

    Störlichtbogenschutz in Niederspannungsanlagen etabliert sich auf breiter Front in allen relevanten Vorschriften und ist schon seit vielen Jahren anerkannter Stand der Technik. Dem Betreiber elektrischer Anlagen sollte bewusst sein, dass er verpflichtet ist, geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um Mitarbeitende zu schützen und dem ArbeitnehmerInnenschutzgesetz bzw. der Elektroschutzverordnung gerecht zu werden.

    Die Dehn Austria GmbH unterstützt bei der Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung und ist bei der Erstellung eines entsprechenden Nachweises behilflich. Neben dem Personenschutz sollten bei der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung ebenfalls Anforderungen an die Verfügbarkeit und damit den Anlagenschutz zur Beurteilung herangezogen werden. Diese umfassende Beurteilung bildet einen elementaren Bestandteil eines ganzheitlichen Störlichtbogenschutzes.