Elektromobilität : Smarte Ladeinfrastruktur statt Straße aufgraben
"City Graph" ist ausgezeichnet - im wahrsten Sinn des Wortes: Auf der World Smart City Expo 2020 wurde der World Smart City Award in der Kategorie „Urban Environment“ verliehen, und die IDC (International Data Corporation) verlieh den „2020 Smart Cities and Communities Europe and Central Asia Award“ in der Kategorie “Resilient Infrastructure”. Doch was kann dieses Modell, das in der Seestadt Aspern seit 2019 eingesetzt wird - und wofür wird es genutzt? Jakob Neugebauer (Wiener Netze) und Michael Schuff (Wien Energie) zeigen, wie hier die Zukunft der Ladeinfrastruktur gestaltet wird.
2019 startete die zweite fünfjährige Programmperiode von Aspern Smart City Research mit dem "City Graph". Zeit für eine Halbzeit-Bilanz: Was war das ursprüngliche Ziel, und was hat sich seither getan?
Jakob Neugebauer: Ziel des City Graph ist ein Vorhersage-Modell, wo und wann wir welche Kapazitäten bereitstellen müssen. In Zukunft werden immer mehr E-Autos unterwegs sein, wobei viele Menschen ihr Auto zu Hause laden werden. Wird das intelligent geregelt, sind die Auswirkungen auf das Netz beherrschbar. Für unser Projekt verwenden wir zurzeit Daten des unternehmenseigenen Fuhrparks der Wiener Netze sowie zugekaufte Daten eines Sharing-Dienstes, die über die Telemetrieboxen der Mietautos verfügbar sind. In der derzeitigen Phase geht es für uns vor allem noch um den Umgang mit den Daten selbst sowie darum, mehr und möglichst repräsentative Daten zu sammeln.
Wie viele Datensätze stehen Ihnen momentan zur Verfügung?
Neugebauer: Im Monat sammeln wir knapp 10.000 Datensätze. Natürlich werden wir auch in Zukunft nicht in jedem Wiener Auto die Sensorik für unseren City Graph haben – das wäre weder technisch noch datenschutzrechtlich umsetzbar und ist auch gar nicht notwendig für unsere Zwecke.
Was ist dieser Zweck?
Neugebauer: Ziel ist letztlich ein Simulationsmodell, um das Stromnetz mit all seinen Komponenten auf eine möglichst effiziente Versorgung auszurichten. Damit es am Ende nicht eine dicke Stromautobahn zu jedem Haushalt braucht. Eben smart laden statt Straße aufgraben. Beim Haushaltsstrom verfügen wir durch die Daten der Ferraris-Zähler über typische Lastprofile im Tages- und Wochenverlauf. Ähnliches streben wir auch im Bereich der Elektromobilität an. Der durchschnittliche Jahresverbrauch eines österreichischen Haushalts ohne E-Auto liegt bei rund 3.500 Kilowattstunden. Rechne ich nun zusätzlich mit einem Elektroauto mit einem Verbrauch von 20 Kilowattstunden pro 100 Kilometer und einer jährlichen Fahrleistung von 15.000 Kilometern, so komme ich auf etwa 3.000 Kilowattstunden. Die Frage ist nun, wann welche Leistung aus dem Netz gezogen wird. Dabei handelt es sich natürlich immer um anonymisierte Daten. Uns interessiert nicht der einzelne Autolenker, sondern das typische Lastprofil der großen Masse.
Was ist "Aspern Smart City Research"?
Im Rahmen von „Aspern Smart City Research“ (ASCR) wird mit Hilfe von Echtdaten aus dem Stadterweiterungsgebiet Seestadt Aspern an Lösungen für die Energiezukunft im urbanen Raum geforscht. Ins Leben gerufen wurde das Projekt bereits 2013 von Siemens Österreich, Wien Energie, den Wiener Netzen, der Wirtschaftsagentur Wien und der Seestädter Entwicklungsgesellschaft Wien 3420 AG.
Zwei Bausteine am Weg zum Ziel sind die beschriebenen Projekte „City Graph“ und der „Use Case 11 – Smart Charging“. Bei Ersterem handelt es sich um ein Modell, um Bedarfslagen vorherzusagen. Dabei wird ein digitaler Zwilling des Stadtraums mit den Echtdaten eines Sharing-Dienstes gefüttert. Smartes Laden wiederum wird zurzeit in einer großen Parkgarage in der aspern Seestadt erforscht. Letztlich sollen so viele Autos wie möglich bei einer möglichst geringen Netzanschlussleistung versorgt werden können.
Smart Charging via App
Um smartes Laden geht es auch beim sogenannten „Use Case 11 - Smart Charging“. Michael Schuff, Business Developer bei Wien Energie, bringt hier die Bedürfnisse der Ladekunden mit der Netzanschlussleistung sowie mit der eigenen Stromerzeugung und -speicherung zusammen.
Wie ist das Projekt "Use Case 11" angelegt?
Michael Schuff: Uns interessiert, wie wir die Bedürfnisse der Ladekunden mit der Netzanschlussleistung sowie mit der eigenen Stromerzeugung und -speicherung in Einklang bringen können. Dazu unterhalten wir neun Ladestationen in einem Parkhaus in der aspern Seestadt in Verbindung mit einer Photovoltaik-Anlage am Dach und mit einem Batteriespeicher. Einzige Zugangsbedingung ist eine kostenlose App.
Nach der Halbzeitbilanz wird die Infrastruktur zum Teil ausgetauscht. Was ist der Hintergrund?
Schuff: Als Wien Energie sind wir interessiert an Informationen über die Funktionsweise unterschiedlicher Ladestationstypen. Daher wird demnächst eine neue Schnellladestation von Siemens montiert. Ein Parkplatzüberwachungssystem war von Anfang an angedacht, um die Reservierungsfunktion in unserer App verlässlicher zu machen. Gelegentlich kommt es vor, dass ein Fahrzeug mit Verbrennungsmotor den Zugang zu einer Ladestation verstellt.
Das Projekt ist recht komplex und besteht nicht nur aus App und Ladesäulen. Im Hintergrund laufen auch ein Energiemanagementsystem von Siemens und ein Speichersystem. Funktioniert das alles zu Ihrer Zufriedenheit?
Schuff: Das Speichersystem wurde mehrmals von den Kollegen angepasst und läuft gut, ebenso wie das Management der dezentralen Energieressourcen vor Ort und die Kommunikation zum Grid Controller der Wiener Netze. Generell gesprochen besteht aus meiner Sicht noch Nachbesserungsbedarf in der Kommunikation zwischen E-Auto und Ladestation. Entsprechende Normen sind zwar angedacht, aber das ist allgemein noch nicht so umgesetzt, wie wir das gerne hätten.
Als Wien Energie interessiert uns auch die Kundeninteraktion. Die App und der Registrierungsprozess dafür werden beständig verbessert. Beispielhaft sei ein mögliches künftiges Szenario geschildert: Der User kommt zur Ladestation im Parkhaus des Donauzentrums, steckt sein Auto an und bekommt dann eine Push-Nachricht auf sein Smartphone. Das System weiß, dass der Betreffende üblicherweise zwei Stunden im Einkaufszentrum verbringt und schlägt entsprechend vor, den Akku bis zur erwarteten Abfahrt auf 80 Prozent zu beladen. Wünscht der User eine Vollbeladung, kann er dies beispielsweise über einen Schieberegler anschließend umstellen.
Was sind mögliche Einsatzgebiete Ihres lokalen Energiemanagementsystems?
Schuff: Überall dort, wo ich umfangreiche Ladeinfrastruktur in Verbindung mit eigener Energieerzeugung sowie eventuell mit elektrochemischen und kinetischen Energiespeichern habe, bietet unser System große Vorteile.
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