IEC-Generalsekretär Philippe Metzger : „Unser Ziel ist eine All Electric and Connected Society“
Elektropraxis@Punktum: Herr Metzger, Sie sind zum OVE Innovation Day nach Wien gereist. Welche Rolle spielt denn für Sie Normung im Innovationsprozess? Soll oder kann es Innovation ohne Normung geben?
Philippe Metzger: Man muss hier zwischen verschiedenen Dimensionen unterscheiden. In reifen, entwickelten Industriegebieten kommt die Standardisierung eher am Schluss zum Zug, wenn die Innovation per se schon gereift ist und es darum geht, die Qualität zu sichern und entsprechend Kosten zu sparen. Wenn man auf neue Gebiete schaut, dann setzt die Standardisierung bisweilen schon früher ein und läuft dann quasi parallel zur Forschungs- und Entwicklungsphase. Eine dritte Dimension ist es zudem, dass man durch die Standardisierung neue Innovations-Ökosysteme kreieren kann, weil sich verschiedene Stakeholder zusammenfinden, die sonst vielleicht nicht zwingend in Kontakt wären. So können neue Wertschöpfungsketten entstehen.
Von Industrienationen bis Schwellenländer – wie schafft es die IEC, knapp 170 sehr unterschiedliche Mitgliedsstaaten auf einen Nenner zu bringen?
Metzger: Dafür haben wir konsensbasierte Prozesse. Jedes Mitglied hat in der IEC letztlich eine Stimme, nach dem Prinzip one country, one world. Das gilt auch für das Vorschlagen neuer Themen oder technischer Komitees. Damit gibt es einen eingespielten Mechanismus, in den sich verschiedene Stakeholder einbringen können. Natürlich kommen viele Vorschläge aus der Industrie, aber auch von KMUs. In Leading Edge-Technologien wie KI und Quantum-Technologien erhalten wir viele wichtige Inputs von der Wissenschaft. Wir sind traditionell sehr stark von der Industrie getrieben. Die fortschreitende Technologisierung führt aber auch dazu, dass Regierungen und Regulationsbehörden, vermehrt Bedürfnisse an die Regulation haben. Unsere Voraussetzungen sind dabei klar. Wenn ein Staat ein Nationalkomitee in der IEC gründen will, dann muss dieses alle Stakeholder auf der nationalen Ebene einbinden.
Konsensbasiert auf einen Nenner zu kommen, bedeutet im Umkehrschluss sehr breit definierte Standards, oder?
Metzger: Standards sollen offen sein. Es geht ja nicht darum, geschlossene Gesellschaften zu bilden. Das kann man das am Handel festmachen. Unsere Arbeit ist stark an das WTO-Abkommen angeknüpft – um Handelshemmnisse zu vermeiden, sollen international anerkannte, konsensbasierte Standards zum Einsatz kommen. Da sind wir, die ISO und ITU führende Standardisierungsgremien, die von der WTO entsprechend anerkannt sind. WTO-Mitglieder benutzen unsere Standards also, um sich abzusichern, dass entsprechende Vorschriften nicht als Handelshemmnis gewertet werden. Das schafft eine Plattform für den Wettbewerb – alle haben quasi gleich lange Spieße, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Gleichzeitig ist das auch interessant für die KMUs, die durch anerkannte Standards eher am Weltmarkt teilnehmen können. Natürlich haben wir aber auch größere gesellschaftliche Herausforderungen, die wir mit den Standards abdecken wollen – Nachhaltigkeit ist eines der großen Themen.
Standards sollen offen sein. Es geht ja nicht darum, geschlossene Gesellschaften zu bilden.
"Smart" Standards der Zukunft
Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit bei der IEC mit anderen internationalen Normungsorganisationen wie CENELEC oder eben auch nationalen Vertretungen wie dem OVE für Österreich?
Metzger: Der OVE und andere Organisationen, die nationale Komitees der IEC beherbergen und auch betreiben, das sind unsere Mitglieder. Die IEC gibt es nur, weil die Mitglieder finden, dass es Sinn macht, eine internationale Organisation zu haben, die Standards entwickelt. Und diese Mitglieder nehmen federführend teil. Sie sind es letztlich, die entscheiden, was sie gemeinsam erreichen und wie viel Geld sie investieren wollen. Was andere Organisationen anbelangt, ist die ISO unsere stärkste Partnerin, weil wir gemeinsame Prozesse haben. Wir arbeiten zum Beispiel gemeinsam an der Digitalisierung unserer Standards. Das Ziel sind „Smart“ Standards, d.h. nicht einfach ein Dokument zum Lesen, sondern ein Datenformat, das von einer Maschine interpretiert, absorbiert und gezielt eingesetzt werden kann. Bestandteile von verschiedenen Smart Standards sollen einzeln oder im Verbund mit anderen Standardfragmenten kombiniert werden können.
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Wir wollen mitgestalten können und nicht einfach gestaltet werden.
Würden solche Smart Standards eine Verkürzung des Zeitrahmen zur Neuauflage von Normen begünstigen?
Metzger: Das ist schon auch ein Ziel. Der Hauptgrund ist allerdings, dass die Nutzer der Standards – die Industrie und andere Nutzende – sich selbst digital transformiert haben. Sie wollen keine manuellen Prozesse mehr haben, wenn sie Standards einsetzen, sondern diese automatisiert und digitalisiert verwenden. Das ist ein entscheidender Treiber, damit wir als IEC auch in Zukunft relevant bleiben. Wenn wir in zehn Jahren nach wie vor nur Bücher und PDFs anbieten, dann dürften die Industrie und andere Stakeholder, die sich bereits digital transformiert haben, das als ein Ding der Vergangenheit ansehen. Sie würden ihre Standards dann vielleicht anderswo erarbeiten. “Smart“ Standards ist leichter gesagt als getan, aber uns geht es darum, dass wir möglichst an der Front der Entwicklung sind. Wir wollen mitgestalten können und nicht einfach gestaltet werden – von der Umwelt und möglicherweise von Organisationen, die uns das Wasser abgraben wollen.
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Wenn man in der Standardisierung mit Eigengewächsen hantiert, kommt man kaum auf einen grünen Zweig.
Internationales Arbeiten bei geopolitischen Konflikten
Zu Kritik am Normungsprozess: Oft stößt bereits die nationale Normung auf Gegenwind, nehmen Sie das vermehrt wahr, wenn technische Standards dann z.B. aus Genf kommen?
Metzger: Ich denke schon, dass insbesondere in den weiterentwickelten Wirtschaftsräumen die Erkenntnis da ist, dass Normen international gestützt werden müssen. Ja, wir haben geopolitische Tendenzen, die eher auf Abschottung hinauslaufen und es ist richtig, dass wir über große Wirtschaftsräume sprechen, aber diese sind alle bei uns in der IEC dabei. Es herrscht Interesse, auf solche internationalen Regelwerke und Standards zurückgreifen zu können. Natürlich befinden auch wir uns in einer politischen Realität. Aber spezifische Standards oder Anpassungen passieren bei uns aus technischen Gründen. Rein klimatisch muss ein elektrischer Transformator zum Beispiel anders geschützt sein, wenn er minus 40 Grad oder plus 50 Grad ausgesetzt ist. Ganz generell ist die internationale Standardisierung ein wichtiges und zunehmend anerkanntes Mittel für das Wohlergehen der breiten Gesellschaft. Und wenn man in der Standardisierung mit Eigengewächsen hantiert, kommt man kaum auf einen grünen Zweig.
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Apropos geopolitische Entwicklungen: Wie beeinflussen diese die Arbeit der IEC? Sowohl Russland als auch die Ukraine sind z.B. als volle IEC-Mitglieder auf Ihrer Website geführt.
Metzger: Wichtig ist, dass wir uns immer wieder auf unsere Wurzeln zurückbesinnen. Wir sind eine technische Organisation und nicht eine zwischenstaatliche bzw. politische Organisation wie die UNO. Die Mitglieder kommen zusammen, um technische Arbeit zu machen. Und wir versuchen – und ich glaube erfolgreich bisher – uns möglichst rauszuhalten aus politischen Diskussionen. Das Umfeld wird schon politisch mitbeeinflusst, aber im Kern kommt bei uns das technische Wissen zusammen und wir arbeiten auf technische Lösungen hin, die in dem Sinne apolitisch sind. Das ist sehr wichtig, denn Konflikte wird es leider auf dieser Welt noch lange geben, wenn nicht immer. Wenn man jedes Mal auf einen politischen Konflikt schielt und sich quasi für die eine oder andere Seite positionieren würde, käme unsere Arbeit ziemlich rasch zum Stillstand. Von daher gesehen schlägt die Geopolitik nicht direkt durch. Im Kern, im Output, würde ich sagen, haben wir wirklich Kontinuität bewahren können. Ich hoffe, dass das auch in der Zukunft der Fall sein wird.
Strom: Von Sicherheit über Effizienz bis Nachhaltigkeit
Abgesehen von den Smart Standards haben Sie vorhin auch KI erwähnt. Welche Themen sehen Sie in den nächsten Jahren außerdem auf die Normungswelt zukommen?
Metzger: Es gibt natürlich neue Elementartechnologien. Wir haben jetzt gerade mit der ISO ein neues gemeinsames technisches Komitee zu Quantum-Technologien gegründet. Ein weiteres Komitee, das sich bereits etabliert hat und als Autorität angesehen wird, gibt es zur künstlichen Intelligenz. Daneben ist die Nachhaltigkeit ganz entscheidend und entsprechend in unserer Strategie verankert. Eines unserer Kernziele ist eine „All Electric and Connected Society“, also eine pan-elektrische Gesellschaft, die auch vernetzt ist. Denn nur mit den digitalen Technologien kann man die Elektrifizierung und den Einsatz von Elektrotechnologie letztlich vorantreiben. Die IEC hat ihre DNA, die in der Elektrizität angelegt ist. Als wir 1906 gegründet wurden, ging es noch primär darum, wie man Elektrizität sicher benutzen kann. Dann kam die Effizienz dazu und jetzt die Nachhaltigkeit dazu. Ich glaube, mit der Digitalisierung, mit Nachhaltigkeit und den neuen Technologien in einem Ökosystem, das sich weiterentwickelt, werden wir gut beschäftigt sein in den nächsten Jahren.
Eines unserer Kernziele ist eine „All Electric and Connected Society“
IEC: Globale Standards für die Elektrotechnik
Die International Electrotechnical Commission (IEC) ist eine 1906 gegründete, weltweit tätige und neutrale Organisation für die Entwicklung und Veröffentlichung internationaler Normen im Bereich Elektrotechnik, Elektronik und verwandter Technologien. Ihre Standards sorgen für die Kompatibilität und Sicherheit von Produkten und Systemen, fördern den technologischen Fortschritt und erleichtern den internationalen Handel. Rund 170 Länder sind mit Nationalkomitees in der IEC vertreten, die etwa 10.000 internationale Normen publiziert.